Wie wir die Notwendigkeit von Medienkompetenz verschlafen haben

Artikel von: Dietmar Pichler

Als rund um die Jahrtausendwende das Internet endgültig in den Wohnzimmern angekommen war, konnte man im Web bereits scheinbar alles finden. Was ist wirklich am 11. September passiert? Waren die Amerikaner tatsächlich auf dem Mond? Im schlimmsten Fall: Gab es den Holocaust wirklich? Tatsächlich waren Neonazis bereits sehr früh online, sozusagen “Early Adopter”, egal ob es um Vernetzung, Verhetzung oder dreisten Geschichtsrevisionismus ging. Neben Verschwörungstheoretikern, Esoterikern, Rechtsextremisten und Stalinisten, haben auch diverse Terrorgruppen wie Al-Qaida das Potential des Internets rasch erkannt. Immer wieder tauchten Videos in schlechter Auflösung auf, von Männern mit langen Bärten, von denen einige vielleicht sogar Osama bin Laden waren, so sicher war man sich da manchmal nicht.

WEB 2.0 das “Mitmachweb” änderte alles

Bereits nach der Jahrtausendwende waren auch in Österreich einige User in Communities und damit verbundenen politischen Foren unterwegs. Damals gab es schon User, die Diskussionen mit Mehrfach-Profilen (Fake Accounts) für sich entscheiden wollten. Trotzdem war es nur eine kleine, polit-affine Szene, mit unterschiedlichen ideologischen Hintergründen, welche wenig öffentlichkeitswirksam im “geschützten Raum” vor sich hin diskutierte.

Trotzdem wurde hier der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, welche wir heute täglich erleben: Menschen können selbst, ohne technisches Hintergrundwissen, innerhalb von Sekunden, längere Texte im Netz publizieren. Damit wurden die User vom Konsumenten auch zum Produzenten. “User generated Content”, war geboren und erfuhr spätestens mit Facebook einen breitenwirksamen Siegeszug.

Plötzlich konnte jeder publizieren und kommentieren und, was noch gravierender war: Die Kommentare wurden von nun auch gelesen, von sehr vielen Menschen. Teilweise erhielt die Kommentarspalte auf Facebook unter einem Artikel eines Mediums mehr Aufmerksamkeit als der Artikel selbst. Kommentiert konnte auch werden, wenn der Artikel gar nicht gelesen wurde.Doch nicht nur das Publizieren gab dem User eine ganz neue Macht, auf die er nicht vorbereitet wurde: Auch mit der Möglichkeit zu teilen, also dem verbreiten von Postings, Links, Tweets und allerlei Informationen oder Desinformationen wurde den Nutzerinnen und Nutzern eine ganz neue Verantwortung übertragen. Doch speziell wenn es um das Lesen, Interpretieren und die Frage des Verteilens von Informationen geht, spielt die Medienkompetenz eine ganz große Rolle. Eine Kompetenz, die in den Schulen nur wenig oder gar nicht und sicher nicht am Puls der Zeit gelehrt wird.

So war man zum Beispiel 2014 völlig unvorbereitet, als “Alternativmedien” und staatliche Troll-Fabriken die Länder der Europäischen Union ins Visier nahmen, um russische Narrative zu verbreiten, wie zum Beispiel die “Verschwulung Europas durch Conchita Wurst”, die “verkommene Ukraine” und nicht zuletzt ab 2015 der “Bürgerkrieg und Ausnahmezustand” aufgrund der Flüchtlingskrise.

Dabei hat sich schon früh der Trend gezeigt, dass Desinformation und Verschwörungstheorien speziell in wenigen Hauptbereichen gehäuft vorkommen: Politik, Zeitgeschichte und Gesundheit. Während Politiker und sonstige Ideologen gerne ihre Narrative über relevante Ereignisse unter das Volk bringen, haben Scharlatane im Gesundheitsbereich oft ein ganz simples Motiv: Wundermittelchen und Bücher verkaufen, also Geld mit der Gutgläubigkeit vieler Menschen zu verdienen.
Im Rahmen der Covid19 Pandemie haben sich die Themen Politik und Gesundheit auf eine nie dagewesene Art und Weise verzahnt und geben aufgrund der weltweiten Relevanz des Themas ein perfektes Ziel für Verschwörungstheorien und Desinformation ab. Was früher eine Nischen-Diskussion war, die wenig oder kaum beachtet wurde, manifestiert sich heute mit zehntausenden Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die angebliche “Corona Diktatur”.

Demokratische Gesellschaften müssen rasch reagieren

Egal ob eine weltweite Pandemie, die russische Aggression gegen die Ukraine oder der nächste Wahlkampf in Österreich: Die Herausforderung Desinformation wird nicht kleiner werden.

Auf all das hätte uns das Bildungssystem bereits vor 20 Jahren vorbereiten sollen. Rufe, die Sozialen Netzwerke müssten proaktiver und treffsicherer gegen Desinformation vorgehen, sind durchaus berechtigt. Auch die Rolle der Algorithmen, die dafür mitverantwortlich sind, dass User oft immer die gleichen Positionen und Themen vorgesetzt bekommen, (Filterbubble) sind selbstverständlich kritisch zu hinterfragen. Wollen wir aber tatsächlich die Integrität unserer Demokratie bewahren, Meinungsfreiheit und pluralistische Presse beibehalten, müssen wir massiv in die Medienkompetenz der Bevölkerung investieren.

In allen Altersgruppen, allen Bildungsschichten, nicht nur in den Schulen und weit über Österreich hinaus, die Zeit drängt!